Genau wie viele Menschen aus Europas Ländern versprachen sich auch Tausende Vietnamesen eine erfolgreiche Existenz in Deutschland. Ihre Erfolgsgeschichte ist jedoch auch eine Geschichte von Aufopferung und Fremdheit. © Horst Sturm / dpa
Thilo Sarrazin hat mich gelobt, ich bin Vietnamesin. Eine von denen, die gut in der Schule waren und Deutsch früh gelernt haben, es lag wohl an den guten Genen. Wir Vietnamesen sind ja sehr beliebt. Kaum macht sich einer wie Sarrazin der Fremdenfeindlichkeit verdächtig, zitiert er unseren Erfolg: »Guckt euch diese fleißigen Menschen an! Wenn sie sich hocharbeiten können, warum können es die faulen Muslime nicht?!«Mit seinem Lob wollte Sarrazin beweisen, dass er nichts gegen Einwanderer hat. Er hat uns wie einen Joker gezogen in seinem Gute-Migranten-schlechte-Migranten-Spiel. Offensichtlich kennt er uns genauso schlecht wie sie; das vermeintliche vietnamesische Erfolgsmodell lässt sich nicht exportschlagermäßig auf die Muslime übertragen.
Meine Eltern, die hier in den siebziger Jahren einwanderten, brachten mir bei, dass ich besser als »die Deutschen« sein müsse, um als gleich anerkannt zu werden. Eine Zwei auf dem Zeugnis war eine Enttäuschung. Wenn ich sagte, dass das »gut« bedeutet, sagten sie mir: »Du sollst dich nicht mit den Deutschen vergleichen. Du bist anders als sie.« Es klang so wie: Du bist nicht so viel wert wie sie.
Wenn wir früher vietnamesische Bekannte trafen, verglichen meine Eltern meine Noten mit den Noten der Kinder ihrer Bekannten. Im konfuzianistischen Vietnam ist Bildung sehr wichtig, der Lehrer die am meisten respektierte Person überhaupt, und diese Haltung nahmen die Einwanderer nach Deutschland mit. Im Gegensatz zu den türkischen Gastarbeitern hatten viele vietnamesische Einwanderer Schulabschlüsse, manche studierten dann auch in Westdeutschland.
Einmal besuchte uns eine vietnamesische Bekannte mit ihrem Sohn, sie brachte einen Pokal mit, den er bei einem Mathematikwettbewerb gewonnen hatte, und stellte ihn bei uns auf den Wohnzimmertisch. Der Sohn schämte sich zutiefst: »Muss meine Mutter mit mir so angeben?«, fragte er gequält.
Erst später verstand ich, dass auch unsere Elterngeneration unter Leistungsdruck stand. Fern von ihrer Heimat, war ihnen die gesellschaftliche Anerkennung der anderen Exilvietnamesen umso wichtiger. »Glück bedeutet für die Familie, wenn das Kind es besser hat als der Vater«, lautet ein Sprichwort. Viele Vietnamesen der ersten Generation sprechen nicht so gut Deutsch, manche schlagen sich als Nudelverkäufer oder Handpflegerinnen durch. Sie projizieren ihre Hoffnungen auf die zweite Generation. Und die wiederum opfert sich aus Pflichtgefühl auf.
Laut Statistik geht mindestens die Hälfte der vietnamesischen Kinder auf das Gymnasium, eine höhere Quote als bei den Deutschen. Fast alle wollen danach studieren, am liebsten BWL, Jura oder Medizin. Warum? Weil sie ihren Eltern etwas zurückgeben wollen, weil sie die Familienpflicht des sozialen Aufstiegs erfüllen wollen. Vielleicht fühlen sie sich auch schuldig, weil sie in einem freien, reichen Land aufwachsen, während die Eltern dem Vietnamkrieg nur knapp entflohen sind. Ich zumindest empfinde es so.
Manchmal frage ich mich, ob ich mich deshalb so anstrenge, etwas aus meinem Leben hier zu machen, weil ich glaube, dass ich es meinen Eltern und Verwandten wegen deren Leben in Vietnam schuldig bin. Ich habe hier alle Möglichkeiten, sie hatten dort keine. Es ist eine Rechnung, die natürlich nie aufgehen wird. Die Vietnamesin in mir treibt mich trotzdem voran. Die Deutsche in mir will endlich loslassen.
Die Deutschen haben mich schon oft gelobt, weil ich perfekt Deutsch spreche. In dem Lob schwang mit, dass ich anders bleibe, egal, wie sehr ich mich auch anstrenge. Natürlich ist es für uns Vietnamesen angenehmer, als Streber und nicht mehr als Zigarettenschmuggler gesehen zu werden (obwohl es auch die immer noch gibt). Aber ich frage mich manchmal, ob mit der Anpassung an deutsche Verhältnisse nicht auch ein Verrat an der eigenen Kultur einhergeht. Mein Vietnamesisch ist auf Kinderniveau stehen geblieben, wenn ich das Land meiner Eltern besuche, kann ich mich nicht richtig verständigen. Ich bin von meiner eigenen Familie entfremdet, von meiner eigenen Herkunft. Das ist der Preis, den ich für meine Integration bezahlt habe.
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