Viele deutsche Musterschüler stammen aus Vietnam - besonders in Mathematik erringen sie Spitzenleistungen. Doch die strenge Erziehung hat ihre Schattenseiten
Am Mittwoch, dem asiatischen Silvesterabend, haben die Tran Chaus gefeiert. Als die Familie um sieben Uhr am Abendbrottisch in ihrer kleinen Wohnung in einem Berliner Plattenbau versammelt saß, gab es Klebreiskuchen mit grünen Bohnen und süßen Pudding. Anschließend hat die zehnjährige Bao Chau beim Abwasch geholfen und sich mit ihrer kleinen Schwester, mit der sie das Bett teilt, schlafen gelegt. Mit der Taschenlampe unter der Bettdecke hat sie noch in einem Jugendroman über Kampfkatzen gelesen.
Bao Chau bedeutet "Schatz", und ihre Mutter Anh Ngo lässt keinen Zweifel daran, dass ihre Kinder das Wichtigste sind in ihrem Leben. "Für eine gute Ausbildung meiner Töchter gebe ich alles, um jeden Preis", sagt sie. "Das ist so Tradition in vietnamesischen Familien." Frau Ngo ist stolz. Seit einem halben Jahr geht Bao Chau auf das Heinrich-Hertz Gymnasium, eines der besten in ganz Berlin. Auf ihrem letzten Zeugnis hatte das Mädchen einen Notendurchschnitt von 1,3. Mathematik ist ihr Lieblingsfach. "Ich mag Zahlen und Logik", sagt Bao Chau, wendet sich ihrer kichernden kleinen Schwester zu und signalisiert ihr mit dem Finger an den Lippen, sie solle das Gespräch nicht stören.
An Gymnasien in den ehemaligen Berliner Ostbezirken Friedrichshain, Lichtenberg oder Marzahn stammen durchschnittlich 15 Prozent der Schüler aus einer vietnamesischen Familie. Gerade in Mathematik und Naturwissenschaften sind viele von ihnen stark. Bundesweit besuchen etwa 59 Prozent der vietnamesischen Schüler ein Gymnasium - damit sind sie erfolgreicher als deutsche Kinder (43 Prozent). Im Vergleich zu türkisch- oder italienischstämmigen Jugendlichen ist ihre Gymnasialquote fünfmal so hoch.
"Vietnamesische Eltern", sagt der Erziehungswissenschaftler Olaf Beuchling, "sind sehr bildungsbewusst und setzen ihre Kinder unter hohen Leistungsdruck." Beuchling hat über den Bildungserfolg von Schülern vietnamesischer Herkunft promoviert, den er in dem Buch "Vom Bootsflüchtling zum Bundesbürger" beschreibt.
Rund 100 000 Vietnamesen leben in Deutschland. In Westdeutschland gehen heute die Kinder der sogenannten Boatpeople auf die Schulen. Ihre Eltern stammen aus dem Süden Vietnams und kamen nach dem Sieg des kommunistischen Nordens Ende der 70er-Jahre in die Bundesrepublik. Die Tran Chaus hingegen stammen aus dem sozialistischen Norden ihres Heimatlandes und folgten in den 80er-Jahren dem Ruf der DDR. Nach der Wende hatten die Kombinatsarbeiter keinen Aufenthaltsstatus mehr, viele suchten ihren Broterwerb jenseits der Legalität - in Geschäften der vietnamesischen Zigarettenmafia etwa.
1993 schließlich legalisierte die Bundesregierung den Status der Vertragsarbeiter. Wegen ihrer Sprachprobleme blieb vielen nichts als die Selbstständigkeit; sie eröffneten Asia-Imbisse, Gemüse- oder Blumenläden und Nagel-Studios. Am Leben in der deutschen Gesellschaft nehmen sie bis heute kaum teil - und zum Deutschlernen haben sie keine Zeit. Doch ihre mangelnde Integration fällt weiter nicht groß auf, vielmehr arbeiten sie leise vor sich hin.
"Vietnamesen schuften hart, auch wenn sie krank sind, oft 365 Tage im Jahr", sagt Tamara Hentschel vom Verein Reistrommel, der vietnamesischen Familien Hilfe anbietet. "Auch von ihren Kindern verlangen sie harte Arbeit - oft als Unterstützung im Laden, aber auch in der Schule. Sie bläuen ihnen ein, dass nur Bildung ein besseres Leben ermöglicht. Die Kinder sehen, dass sich die Eltern aufopfern und fühlen sich verpflichtet, es ihnen einmal ein Stück weit zurückzugeben." Also lernen sie.
Die Erfolge der vietnamesischen Kinder widerlegen die These, dass Migranteneltern selbst integriert sein müssen, damit der Nachwuchs in der Schule zurechtkommt. Ihre oft schlechte soziale Situation scheint kein Hindernis für die Bildungserfolge der Kinder. Vielmehr sind ihre hervorragenden Ergebnisse oft trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Familie möglich.
Bao Chau ist ein eifriges, pflichtbewusstes Mädchen. Ihr Wochenrhythmus folgt einen strammen Zeitplan. Gegen 15 Uhr kommt sie aus der Schule. Montagnachmittags besucht sie einen vietnamesischen Sprachkurs, damit sie ihre Muttersprache nicht verlernt. Dienstags holt sie ihre vierjährige Schwester von der Kita ab und nimmt sie mit zum Handballtraining. Mittwoch steht Klavierunterricht auf dem Programm, Donnerstag wieder Handball, Freitag ein Kurs in Musiktheorie. Jeden Tag übt Bao Chau eine halbe Stunde Klavier und macht etwa zwei Stunden Hausaufgaben. Samstag hat sie meist Handballspiele. Und sonntags? "Dann helfe ich im Haushalt", sagt Bao Chau, "oder ich lese." Wenn Bao Chau eine schlechte Note bekommt, ärgert sie sich. "Wir suchen dann gemeinsam den Fehler", sagt Frau Ngo, "und dann sage ich: ,Hier ist dein Problem.' Wenn ich ihr Kritik gebe, ist sie traurig, aber sie weiß, dass ich recht habe."
Der strenge Erziehungsstil erinnert an die These der chinesisch-amerikanischen Mutter Amy Chua, Autorin des Bestsellers "Schlachtruf einer Tigermutter - Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte." Asiatische Mütter seien den westlichen überlegen, weil die ihre Kinder nicht richtig forderten und daher nicht wirklich fördern. Ihren Töchtern verlangte Chua ultimative Disziplin ab. Spielen, Herumträumen, Trödeln, Kindergeburtstage besuchen: All das ist verbotene Zeitvergeudung.
Ganz so autoritär gehe es in vietnamesischen Familien nicht zu, sagt Beuchling, der seit 15 Jahren über die Bildungserfolge der Vietnamesen forscht. Vielmehr wirke die konfuzianische Tradition, nach der alle vorankommen können, wenn sie lernen, egal ob Bauer oder Fürstensohn. Auch präge die Vietnamesen ein großes Harmoniebedürfnis: Man wolle durch individuelle Wünsche nicht den Rhythmus der Familie, letztendlich der Gesellschaft stören.
Mit ihrer konfuzianischen Mentalität und ihrem Willen, sich zu beugen, werden die Asiaten zu Leistungsträgern im deutschen pädagogischen Bildungssystem. Der Anteil asiatischer Studierender hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Die meisten vietnamesischen Studenten in Deutschland sind sogenannte Bildungsausländer: Sie erwerben die Hochschulreife in ihrem Heimatland und kommen zum Studium oder für die Promotion hierher.
Der Gesundheitswissenschaftler Vuong Anh Duong etwa forscht an der TU Berlin über die Privatisierung von Krankenhäusern. Duong arbeitet für das Gesundheitsministerium in Hanoi. Seine Frau und seine beiden Söhne hat er in den vergangenen vier Jahren dreimal gesehen. "Wenn du die Wahl hast, warum nicht in das bessere Land gehen?" fragt Duong. "Opfer für die Karriere zu bringen ist normal in Vietnam." Vietnamesische Familien sparen, um ihrem Kind ein Ingenieurwissenschafts-, Wirtschafts- oder Jurastudium in Deutschland zu ermöglichen.
Duong sagt, er bewundere die Lebensmentalität der Deutschen. "Sie sind sehr diszipliniert und lerneifrig, aber sie genießen das Leben auch", sagt Duong. "Wir Vietnamesen überspannen den Bogen oft. Wir ruinieren unser Leben und unser Gehirn - und alles wegen der Karriere." Auch Tamara Hentschel vom Reistrommel-Verein kritisiert den enormen Leistungsdruck vietnamesischer Eltern. "Sie haben harte Strafen und sie üben psychische Gewalt aus, die Kinder haben keine Freizeit. Sie tun mir leid."
Bao Chau weiß noch nicht, was sie einmal werden möchte. Das Mädchen sieht sich als Vietnamesin, sie hat einen vietnamesischen Pass, obwohl sie deutsch sozialisiert ist. Manchmal fällt es ihr schwer, ihren Eltern zu erklären, wie es ihr geht, es fehlen ihr die Worte auf Vietnamesisch und den Eltern die deutschen. Auf die Frage, auf was sich Bao Chau in Zukunft freut, sagt sie, auf die nächste Mathe-Olympiade. Bei der letzten hat sie nicht gut abgeschnitten. Das will sie nächstes Mal besser machen, sagt sie, und ihre Mutter lächelt dabei.
http://www.welt.de/print/wams/politik/article12460692/Frau-Ngos-ganzer-Stolz.html
An Gymnasien in den ehemaligen Berliner Ostbezirken Friedrichshain, Lichtenberg oder Marzahn stammen durchschnittlich 15 Prozent der Schüler aus einer vietnamesischen Familie. Gerade in Mathematik und Naturwissenschaften sind viele von ihnen stark. Bundesweit besuchen etwa 59 Prozent der vietnamesischen Schüler ein Gymnasium - damit sind sie erfolgreicher als deutsche Kinder (43 Prozent). Im Vergleich zu türkisch- oder italienischstämmigen Jugendlichen ist ihre Gymnasialquote fünfmal so hoch.
"Vietnamesische Eltern", sagt der Erziehungswissenschaftler Olaf Beuchling, "sind sehr bildungsbewusst und setzen ihre Kinder unter hohen Leistungsdruck." Beuchling hat über den Bildungserfolg von Schülern vietnamesischer Herkunft promoviert, den er in dem Buch "Vom Bootsflüchtling zum Bundesbürger" beschreibt.
Rund 100 000 Vietnamesen leben in Deutschland. In Westdeutschland gehen heute die Kinder der sogenannten Boatpeople auf die Schulen. Ihre Eltern stammen aus dem Süden Vietnams und kamen nach dem Sieg des kommunistischen Nordens Ende der 70er-Jahre in die Bundesrepublik. Die Tran Chaus hingegen stammen aus dem sozialistischen Norden ihres Heimatlandes und folgten in den 80er-Jahren dem Ruf der DDR. Nach der Wende hatten die Kombinatsarbeiter keinen Aufenthaltsstatus mehr, viele suchten ihren Broterwerb jenseits der Legalität - in Geschäften der vietnamesischen Zigarettenmafia etwa.
1993 schließlich legalisierte die Bundesregierung den Status der Vertragsarbeiter. Wegen ihrer Sprachprobleme blieb vielen nichts als die Selbstständigkeit; sie eröffneten Asia-Imbisse, Gemüse- oder Blumenläden und Nagel-Studios. Am Leben in der deutschen Gesellschaft nehmen sie bis heute kaum teil - und zum Deutschlernen haben sie keine Zeit. Doch ihre mangelnde Integration fällt weiter nicht groß auf, vielmehr arbeiten sie leise vor sich hin.
"Vietnamesen schuften hart, auch wenn sie krank sind, oft 365 Tage im Jahr", sagt Tamara Hentschel vom Verein Reistrommel, der vietnamesischen Familien Hilfe anbietet. "Auch von ihren Kindern verlangen sie harte Arbeit - oft als Unterstützung im Laden, aber auch in der Schule. Sie bläuen ihnen ein, dass nur Bildung ein besseres Leben ermöglicht. Die Kinder sehen, dass sich die Eltern aufopfern und fühlen sich verpflichtet, es ihnen einmal ein Stück weit zurückzugeben." Also lernen sie.
Die Erfolge der vietnamesischen Kinder widerlegen die These, dass Migranteneltern selbst integriert sein müssen, damit der Nachwuchs in der Schule zurechtkommt. Ihre oft schlechte soziale Situation scheint kein Hindernis für die Bildungserfolge der Kinder. Vielmehr sind ihre hervorragenden Ergebnisse oft trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Familie möglich.
Bao Chau ist ein eifriges, pflichtbewusstes Mädchen. Ihr Wochenrhythmus folgt einen strammen Zeitplan. Gegen 15 Uhr kommt sie aus der Schule. Montagnachmittags besucht sie einen vietnamesischen Sprachkurs, damit sie ihre Muttersprache nicht verlernt. Dienstags holt sie ihre vierjährige Schwester von der Kita ab und nimmt sie mit zum Handballtraining. Mittwoch steht Klavierunterricht auf dem Programm, Donnerstag wieder Handball, Freitag ein Kurs in Musiktheorie. Jeden Tag übt Bao Chau eine halbe Stunde Klavier und macht etwa zwei Stunden Hausaufgaben. Samstag hat sie meist Handballspiele. Und sonntags? "Dann helfe ich im Haushalt", sagt Bao Chau, "oder ich lese." Wenn Bao Chau eine schlechte Note bekommt, ärgert sie sich. "Wir suchen dann gemeinsam den Fehler", sagt Frau Ngo, "und dann sage ich: ,Hier ist dein Problem.' Wenn ich ihr Kritik gebe, ist sie traurig, aber sie weiß, dass ich recht habe."
Der strenge Erziehungsstil erinnert an die These der chinesisch-amerikanischen Mutter Amy Chua, Autorin des Bestsellers "Schlachtruf einer Tigermutter - Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte." Asiatische Mütter seien den westlichen überlegen, weil die ihre Kinder nicht richtig forderten und daher nicht wirklich fördern. Ihren Töchtern verlangte Chua ultimative Disziplin ab. Spielen, Herumträumen, Trödeln, Kindergeburtstage besuchen: All das ist verbotene Zeitvergeudung.
Ganz so autoritär gehe es in vietnamesischen Familien nicht zu, sagt Beuchling, der seit 15 Jahren über die Bildungserfolge der Vietnamesen forscht. Vielmehr wirke die konfuzianische Tradition, nach der alle vorankommen können, wenn sie lernen, egal ob Bauer oder Fürstensohn. Auch präge die Vietnamesen ein großes Harmoniebedürfnis: Man wolle durch individuelle Wünsche nicht den Rhythmus der Familie, letztendlich der Gesellschaft stören.
Mit ihrer konfuzianischen Mentalität und ihrem Willen, sich zu beugen, werden die Asiaten zu Leistungsträgern im deutschen pädagogischen Bildungssystem. Der Anteil asiatischer Studierender hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Die meisten vietnamesischen Studenten in Deutschland sind sogenannte Bildungsausländer: Sie erwerben die Hochschulreife in ihrem Heimatland und kommen zum Studium oder für die Promotion hierher.
Der Gesundheitswissenschaftler Vuong Anh Duong etwa forscht an der TU Berlin über die Privatisierung von Krankenhäusern. Duong arbeitet für das Gesundheitsministerium in Hanoi. Seine Frau und seine beiden Söhne hat er in den vergangenen vier Jahren dreimal gesehen. "Wenn du die Wahl hast, warum nicht in das bessere Land gehen?" fragt Duong. "Opfer für die Karriere zu bringen ist normal in Vietnam." Vietnamesische Familien sparen, um ihrem Kind ein Ingenieurwissenschafts-, Wirtschafts- oder Jurastudium in Deutschland zu ermöglichen.
Duong sagt, er bewundere die Lebensmentalität der Deutschen. "Sie sind sehr diszipliniert und lerneifrig, aber sie genießen das Leben auch", sagt Duong. "Wir Vietnamesen überspannen den Bogen oft. Wir ruinieren unser Leben und unser Gehirn - und alles wegen der Karriere." Auch Tamara Hentschel vom Reistrommel-Verein kritisiert den enormen Leistungsdruck vietnamesischer Eltern. "Sie haben harte Strafen und sie üben psychische Gewalt aus, die Kinder haben keine Freizeit. Sie tun mir leid."
Bao Chau weiß noch nicht, was sie einmal werden möchte. Das Mädchen sieht sich als Vietnamesin, sie hat einen vietnamesischen Pass, obwohl sie deutsch sozialisiert ist. Manchmal fällt es ihr schwer, ihren Eltern zu erklären, wie es ihr geht, es fehlen ihr die Worte auf Vietnamesisch und den Eltern die deutschen. Auf die Frage, auf was sich Bao Chau in Zukunft freut, sagt sie, auf die nächste Mathe-Olympiade. Bei der letzten hat sie nicht gut abgeschnitten. Das will sie nächstes Mal besser machen, sagt sie, und ihre Mutter lächelt dabei.
http://www.welt.de/print/wams/politik/article12460692/Frau-Ngos-ganzer-Stolz.html