Von Martina Miethig
15.10.2010 - Es ist 5.30 Uhr. Eine Stunde, bevor sich die rund anderthalb Millionen Einwohner Hanois auf ihre Mofas schwingen und Kakofonie aus Geknatter und Gehupe rund um den Hoan-Kiem-See ausbricht. Man muss nicht unbedingt Tai-Chi-Praktiker sein, um sich hier vor Sonnenaufgang unter die Frühsportler zu mischen. Ein allseits beliebtes Massenspektakel mit Jogging, Federball und Aerobic bei Disco- und Cha-Cha-Cha-Rhythmen im Angesicht von König Ly Thai To’s Statue.
Bald zogen die Mongolen nach Süden und besetzten das Nachbarland. Ein Jahrtausend später kamen die Franzosen, dann die Japaner, bald abgelöst von den Amerikanern – ein Wimpernschlag in der vietnamesischen Geschichtsschreibung. Heute kommen sie alle in friedlicher Mission: als Touristen in Shorts und Badelatschen.
In der Hauptstadt Hanoi treffen fast alle historischen Epochen aufeinander: Hunderte von Pagoden neben französischen Kolonialbauten und Art-déco-Villen in weichen Ockertönen, sozialistische Protzbauten neben spiegelverglasten Hochhaustürmen. In den Parks und schattigen Alleen unter Tamarinden öffnen sich die Tore zu farbenprächtigen chinesischen Tempeln. In der Altstadt schlägt noch immer das alte, etwas bemooste Herz Hanois– zunehmend mit schicken Boutiquen und Cafés. 36 Zünfte hatten hier ihren Sitz, und wie einst werkeln in den Gassen noch immer vereinzelt Nachfahren der früheren Berufsstände, etwa in der Straße der Bambuswaren (Hang Tre) oder in der Hang Quat, in der sich religiöse Devotionalien stapeln und exotische Kräuter ihr Aroma verbreiten. Das Leben spielt sich auf dem Holzschemel mitten auf dem Bürgersteig ab.
Die dampfende Reissuppe wird schon morgens um 6 Uhr auf dem Fahrrad durch die Gassen gefahren. Hier schnattern Gemüsehändlerinnen unter ihren runden Kegelhüten, dort feilt ein alter Mann mit Tropenhelm an einem Metallblock. An einer Ecke hocken einige Alte bei Bia Hoi (Bier) und "co tuong", einer Art chinesischem Schach. Daneben ist der Ohrenputzer konzentriert bei der Arbeit – einer der ältesten asiatischen Berufe.
Blicke in die Wohnstube ergeben sich im Gewusel auf Schritt und Tritt: Es gibt kaum eine Trennung zwischen drinnen und draußen, privatem und öffentlichem Leben. Bis zu 60 Meter erstrecken sich die extrem schmalen Röhrenhäuser hinter der unscheinbaren Fassade: Werkstatt, Wohn- und Schlafraum, Küche und Lagerraum, alles hintereinander durch Innenhöfe beleuchtet und belüftet. Das Bett ist verborgen hinter einer spanischen Wand, die Altäre für die Ahnen und den Küchengott hängen in der Ecke, die Hühner gackern im Innenhof. Erst zur Nachtzeit wird das Metallgitter zur Straße zugeschoben. Beim Altstadtbummel sollte man sich treiben lassen – ein Slalomlauf um Woks, Kinder und Mofas – immer den Gerüchen folgend und Touristennepp einkaufen. Vor allem die Straßen Hang Gai, Hang Bong, Hang Trong mit Seidenwaren und Schneidern, die Bao Hung, Hai Van und Hang Bong mit Kunsthandwerk.
Wer die jüngere Geschichte Vietnams erleben will – sagen wir die letzten 1000 Jahre –, besucht den winzigen Bach-Ma-Tempel und das Thang-Long-Wasserpuppentheater am Hoan-Kiem-See, wo die Vietnamesen seit rund tausend Jahren die Puppen übers Wasser tanzen lassen. Auch der Literatur-Tempel Van Mieu im Westteil der Stadt ist ein Muss für jeden Besucher von Hanoi: In der ersten konfuzianischen Universität von Vietnam wurde ebenfalls schon vor mehr als 1000 Jahren gelehrt und über Prüfungen geschwitzt.
Nirgendwo kann man in die koloniale Ära besser hineinschnuppern als im Sofitel Legend Metropole – wie der Name schon sagt, voller Legenden. Ob Graham Greene oder Charlie Chaplin, Jane Fonda, Mick Jagger oder Fidel Castro: Solch illustre Gäste und tragikomische Anekdoten treffen in der ehrwürdigen Herberge, vorübergehend auch als Gefängnis genutzt, aufeinander. So hatte ein französischer Offizier bei einem Stromausfall einen Kellner versehentlich erschossen – er hielt ihn im Dunkeln für einen Attentäter.
Für die sozialistische Spurensuche reiht man sich im Gleichschritt ein in die Schlange am Ho-Chi-Mausoleum, um in der kühlen Marmorhalle im Gänsemarsch am immer noch verehrten und jährlich frisch konservierten Landesvater vorbeigescheucht zu werden. Bloß nicht andächtig stehen bleiben oder langsam laufen – nach nicht einmal zwei Minuten ist man wieder draußen. Durch das geschliffene Glas des Sarkophages wirkt es fast, als würde "Onkel Ho" ein bisschen wehmütig seinen Kopf nach jedem Besucher drehen.
Im auslaufenden Jahrtausend schwappte schließlich mit MTV, den Touristen und den zurückkehrenden Übersee-Vietnamesen der moderne Lifestyle nach Vietnam: Gucci, Shiseido und Mercedes. Mehr und mehr verdrängen Designerboutiquen und Souvenirläden, Galerien und trendy Restaurants die Bewohner aus ihren typischen Altstadt-Wohnläden.
Die jugendliche Schickeria Hanois trifft sich abends am West-See, Hanois schickster Gegend, etwa im Highland Coffee, einem Floating-Restaurant mit guter Musik und Snacks, die alle zwei bis drei Euro kosten. Viel teurer ist das angesagte Bobby Chinn um die Ecke – das originell-kitschige Clublokal mit orientalischem Bordell-Wasserpfeifen-Flair ist preisgekrönt wegen der Auswahl an Weinen und Spirituosen. Bei Minh’s erklingt Live-Jazz vom Feinsten – Barbesitzer Quyen Van Minh unterrichtet Saxofon am Konservatorium in Hanoi – und man kann die Zeitreise im Hier und Jetzt ausklingen lassen.
Hanoi