Von Markus Becker
Ein chinesischer Tarnkappen-Kampfjet, der es mit den Modellen der USA  aufnehmen könnte? Nicht vor 2020, sagte Robert Gates. Die Prognose des  US-Verteidigungsministers war 2009 eines seiner wichtigsten Argumente  dafür, die Produktion des Stealth-Jägers F-22 "Raptor" nach 187  Maschinen vorzeitig einzustellen. 
Die Chinesen haben die westliche Welt in den vergangenen Wochen  gleich mehrfach überrascht. Nahezu zeitgleich mit der J-20-Enthüllung  sah sich Admiral Robert Willard, Oberbefehlshaber der amerikanischen  Streitkräfte im Pazifik, zu einer erstaunlichen Warnung genötigt:  Die  Chinesen hätten mit der "Dongfeng"-21D (DF-21D) eine ballistische  Rakete entwickelt, die mit einem Schlag einen Flugzeugträger versenken  könne. Die Waffe sei bereits fertig entwickelt, wenn auch vermutlich noch nicht voll einsatzfähig, sagte Willard.
Ebenfalls zum Jahresende tauchten erneute Berichte über Chinas  Flugzeugträger auf. Dass Peking den in den achtziger Jahren nicht  fertiggestellten russischen Träger "Warjag" gekauft und mit dessen  Ausrüstung begonnen hat, ist bereits bekannt. Doch Ende Dezember meldete  die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf ranghohe chinesische  Beamte, dass der 300 Meter lange Koloss schon 2011 einsatzfähig sein  könnte - ein Jahr früher, als US-Militärs erwartet hatten. 
USA erneuern Strategie aus dem Kalten Krieg
Hinzu kommen moderne U-Boote und sogar Anti-Satelliten-Waffen, die alle in eine Richtung deuten:  China verwandelt seine Massenarmee in eine moderne Streitmacht - und macht den USA ihre vorherrschende Machtposition im Pazifik streitig.
Washington antwortet mit einer neuen Militärdoktrin namens "AirSea  Battle". Sie erinnert nicht nur namentlich an eine frühere amerikanische  Militärstrategie "AirLand Battle", einst dazu erdacht, den Vormarsch  sowjetischer Panzerarmeen nach Westeuropa aufzuhalten.
Das Herzstück von "AirLand Battle" war die enge Kooperation zwischen  Land- und Luftstreitkräften. Angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit  der Warschauer-Pakt-Truppen sahen die Amerikaner nur eine Chance, den  Ansturm des Feinds im Ernstfall aufzuhalten: Einen gleichzeitigen  Angriff auf die erste Angriffswelle und den Nachschub hinter der Front.  Eine enge Verzahnung von Armee, Luftwaffe und Marine sollte das  ermöglichen. Von 1982 bis in die späten neunziger Jahre war die "AirLand  Battle"-Doktrin der Handlungsrahmen für einen potentiellen  Kriegseinsatz der US-Truppen in Europa.
Mit der "AirSea Battle"-Strategie, die derzeit vom Pentagon  ausgearbeitet wird, versuchen die Amerikaner nun, sich auf eine neue  Lage einzustellen. Zwar sind die Chinesen noch weit davon entfernt,  militärisch mit den USA gleichzuziehen. Doch das ist womöglich gar nicht  nötig, um den amerikanischen Einfluss in der Pazifikregion  zurückzudrängen: Die Chinesen scheinen sich darauf beschränken zu  wollen, den Amerikanern mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln  strategisch wichtige Regionen zu versperren.
China will US-Streitkräfte ausbremsen
Bei Ländern wie China gehe es weniger darum, dass sie die USA  symmetrisch - "Kampfflugzeug gegen Kampfflugzeug oder Schiff gegen  Schiff" - herausfordern könnten, sagte Pentagon-Chef Gates auf einer  Tagung der U.S. Air Force im September 2009. "Wir sollten uns eher darum  sorgen, dass sie unsere Bewegungsfreiheit stören und unsere  strategischen Optionen einschränken."
Hintergrund: In den vergangenen Jahren war es das Kernstück der  US-Militärpolitik, Macht zu projizieren. Das gelang den Amerikanern  hauptsächlich durch Militärstützpunkte in aller Welt und den schnellen  Einsatz von Flugzeugträgerverbänden, um Alliierte zu unterstützen und  wirtschaftlich lebenswichtige Ressourcen zu schützen.
Chinas Investitionen in U-Boote, Cyber- und  Anti-Satelliten-Kriegsführung, Technologien zur Bekämpfung von  Flugzeugen und Schiffen und in ballistische Raketen "könnten Amerikas  primäres Mittel bedrohen, seine Macht im Pazifik zu projizieren und  seinen Verbündeten zu helfen", warnte Gates. Das seien "insbesondere  unsere Luftwaffenbasen und die Flugzeugträgergruppen".
Die Zeit der Machtprojektion "geht mit alarmierendem Tempo zu Ende",  schrieb Andrew Krepinevich, Präsident des Washingtoner Think Tanks  Center for Strategic and Budgetary Assessments, jüngst in einer  Studie über die Notwendigkeit der "AirSea Battle"-Doktrin.  Staaten wie Iran und China setzten alles daran, die Machtprojektion der  USA im Westpazifik und im Persischen Golf zu erschweren oder gar zu  unterbinden - indem sie die Amerikaner zu immer größerem Aufwand und  damit zu höheren Ausgaben zwingen. Es könnte sein, so Krepinevich, "dass  die USA den Verlust des Zugangs zu diesen Regionen akzeptieren müssen".
Auf diese Gefahr reagiert die "AirSea Battle"-Doktrin. In einer  weiteren Studie des CSBA sind die wahrscheinlichen Kernpunkte aufgelistet: 
- Die Air Force würde chinesische Satelliten ausschalten, damit US-Schiffe nicht mehr anvisiert werden und frei operieren können,
- Aegis-Schiffe würden die Raketenabwehrsysteme von US-Luftwaffenbasen im Westpazifik verstärken,
- Langstrecken-Schläge würden Chinas landgestützte Ozean-Überwachungssysteme und Startrampen für ballistische Raketen zerstören,
- von US-Flugzeugträgern würden Kampfjets aufsteigen und die bemannten und unbemannten Aufklärungsflugzeuge der Volksbefreiungsarmee angreifen,
- Kampfflugzeuge würden chinesische U-Boote mit Minen und Bombenangriffen bekämpfen.
Allerdings gibt es starke Zweifel daran, dass die Chinesen  wirklich so weit sind, wie es angesichts der Warnungen aus den USA den  Anschein hat. Der Tarnkappen-Jet J-20 etwa wurde bisher nur auf der  Rollbahn, nicht aber im Flug fotografiert. Völlig unklar ist, wie weit  das Flugzeug tatsächlich entwickelt ist. Seine überraschende Größe und  die Tatsache, dass es offenbar zwei Triebwerke besitzt, lässt nach  Ansicht westlicher Experten zumindest darauf schließen, dass es mit der  amerikanischen F-22 "Raptor" konkurrieren solle und der kleineren,  billigeren und einstrahligen F-35 "Joint Strike Fighter" gar überlegen  sein könnte.
Offensichtlich hat die Regierung in Peking die Veröffentlichung der  Fotos von der J-20 im Internet nicht verhindert - was den Verdacht  nährt, dass China ein politisches Signal nicht ungelegen kommt. Auch bei  den anderen militärischen Fortschritten der Chinesen scheint unklar,  was realistisch und was Propaganda ist. 
Unbestritten sind die schnell wachsenden Fähigkeiten Pekings in der Raumfahrt und der Raketentechnik.  Dass sie Satelliten abschießen können, haben die Chinesen bereits bewiesen.  Zudem haben sie im vergangenen Jahr 15 Satelliten gestartet. Es war das  erste Mal seit dem Ende des Kalten Kriegs, dass eine Nation in dieser  Hinsicht mit den USA gleichgezogen ist.
Schiffskiller wurde noch nie getestet
Die ballistische Anti-Schiffs-Rakete DF-21D dagegen mag fertig  entwickelt sein - doch getestet wurde sie vermutlich noch nie, wie auch  Admiral Willard einräumte. "Auf dem Papier kann viel über die  Fähigkeiten einer Rakete stehen", sagt der Münchner Rüstungsexperte  Robert Schmucker SPIEGEL ONLINE. "Aber wo ist die Erprobung?" Wolle man  mit einer ballistischen Rakete einen Flugzeugträger versenken, gebe es  gleich mehrere technische Probleme. Ein solches Schiff erreicht ein  Tempo von 50 bis 60 Kilometern pro Stunde. "Eine ballistische Rakete hat  eine Flugzeit von 15 bis 20 Minuten", so Schmucker. "Das Schiff legt in  dieser Zeit rund 20 Kilometer zurück."
Selbst ein Atomsprengkopf könne einen Träger aus einer solchen  Entfernung nicht versenken. Die DF-21D müsste deshalb punktgenau  treffen. Der Gefechtskopf müsste noch in der ballistischen Flugphase,  wenn er im freien Fall auf sein Ziel zustürzt, präzise steuerbar sein.  Keine leichte Aufgabe bei einer Geschwindigkeit von zwei bis drei  Kilometern pro Sekunde. "Positionsänderungen sind dann nur noch begrenzt  möglich", meint Schmucker. Außerdem brauche man dafür  Echtzeit-Informationen - und die könnten nur von bemannten Flugzeugen  oder Drohnen kommen. "Die kämen aber vermutlich nicht nahe genug an den  Trägerverband heran, ohne selbst in Gefahr zu geraten", sagt Gerd  Hofschuster vom Bremer Raumfahrtunternehmen OHB System.
Unklar ist auch der Status des chinesischen Flugzeugträgers. Zwar  steht inzwischen außer Zweifel, dass die Chinesen das noch zu  Sowjetzeiten gebaute Schiff derzeit einsatzfähig machen. Ob es aber nur  zu Trainingszwecken dienen oder tatsächlich als Flugzeugträger  eingesetzt werden soll, ist umstritten.
Hase und Igel
Schmucker hält die Warnungen von US-Admiral Willard dennoch für  berechtigt: "Es ist immer gut, möglichst frühzeitig darüber  nachzudenken, Entwicklungen eines Gegners zu kontern." Dieses "Hase und  Igel"-Spiel könne die andere Seite im Idealfall entmutigen, überhaupt in  bestimmte Neuentwicklungen zu investieren - "indem man ihm das Signal  gibt, dass man zu dem Zeitpunkt bereits Gegenmaßnahmen besitzen wird",  so Schmucker.
Deshalb dürfte auch die "AirSea Battle"-Doktrin eine wichtige Rolle  spielen. Sie zielt nicht nur darauf ab, die Zusammenarbeit der einzelnen  Teilstreitkräfte zu stärken, sondern - wie schon im Kalten Krieg - die  zahlenmäßige Unterlegenheit der US-Truppen auszugleichen.
Dort gibt es seit Jahrzehnten einen klaren Trend: Immer weniger  Waffensysteme werden zu immer höheren Stückkosten angeschafft. So  verfügt die amerikanische Marine nur noch über 287 Schiffe. Im  Vietnam-Krieg waren es noch mehr als 900. Ähnlich sieht es bei der Air  Force aus. Der in den späten siebziger Jahren eingeführte F-16-Kampfjet  kostet inflationsbereinigt rund 35 Millionen Dollar pro Stück. Die F-35,  die 2016 in Dienst gestellt werden soll, kostet derzeit rund 130  Millionen Dollar. Eine F-22 schlägt gar mit 150 Millionen Dollar zu  Buche.
Einen Sieger dürfte es kaum geben
"AirSea Battle" soll durch das Zusammenschalten der Teilstreitkräfte  ermöglichen, unter anderem solche Gegner zu besiegen, "die mit  ausgefeilten Area-Denial-Fähigkeiten ausgestattet sind", wie es im  aktuellen "Quadrennial Defense Review" des Pentagon heißt. Zwar betont  die Regierung von US-Präsident Obama, dass ein Krieg mit China  keineswegs unausweichlich ist. Doch das "Airforce Magazine" zitierte  jüngst ein Schreiben aus dem Pentagon, das anders klingt.
Das Memo eines ranghohen Pentagon-Beamten beschreibt eine "AirSea  Battle"-Simulation für das Jahr 2028, in der "amerikanische Luft-, See-,  Weltraum- und Spezialstreitkräfte gegen einen aufstrebenden  militärischen Konkurrenten in der ostasiatischen Küstenzone in Stellung  gebracht werden". Der Gegner verfüge über Netzwerke zur Versperrung des  Zugangs zu wichtigen Regionen, über defensive und offensive  Weltraumwaffen, ein großes Arsenal an ballistischen Raketen und  Marschflugkörpern und eine modernisierte Flotte von Angriffs-U-Booten.  In Asien gibt es nur ein Land, auf das dies zutrifft: China.
Einen Waffengang zwischen China und den USA halten die meisten  Beobachter dennoch für extrem unwahrscheinlich. Zu eng sind die  wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den beiden Staaten, zu groß  wären die Kosten, und einen Sieger dürfte es kaum geben. Zudem werden  die neuen Hightech-Waffen der Chinesen auf absehbare Zeit kaum  eingesetzt werden, meint Schmucker. "Anders als etwa in der Raumfahrt  müssen Waffensysteme hundertprozentig sicher funktionieren", so der  Rüstungsexperte. "Das alles sind politische Waffen, die niemand  einzusetzen wagt, weil es mit einem Rohrkrepierer enden könnte."
 

