HANOI -   Es ist der Tag zwei nach seiner Abschiebung aus Deutschland. Nguyen  sitzt im Café Goethe, dem Innenhof des Hanoier Goethe-Institutes. Der  23-Jährige, der älter wirkt, will einen Kaffee bestellen. „Ich bin immer  noch müde vom Flug“, sagt er.
Zwei Nächte hintereinander hat er kaum  geschlafen. Mit 45 anderen vietnamesischen Landsleuten wurde er kürzlich  mit einer Aeroflotmaschine aus Berlin ausgeflogen. Die Nacht endete um 4  Uhr morgens, weil die Bundespolizei die Leute so früh zum Flughafen  brachte. Die zweite Nacht verbrachte er im Flugzeug. Und ihm fehlen  sechs Stunden Zeit. Wegen der Zeitverschiebung.
Der Kellner bringt die Speisekarte. Es liegt  Jahre zurück, dass Nguyen etwas in seiner Muttersprache bestellte. Das  Restaurant des Goethe-Instituts hat allerlei Kaffeesorten im Angebot.  Nguyen studiert das mehrsprachige Angebot aufmerksam, kann sich nur  schwer entscheiden.
Unter anderem die Flüchtlingsräte von Berlin und  Brandenburg hatten kürzlich vor dem Flughafengebäude in Schönefeld  (Dahme-Spreewald) gegen die Abschiebung protestiert, mit Transparenten  und Trommeln. Davon hat Nguyen aber nichts mitbekommen. „Ich habe  gesehen, dass es schneit“, erinnert er sich. „Und ich habe im Bus  gesagt, seht noch mal aus dem Fenster! Schnee werden wir wahrscheinlich  nie wieder sehen in unserem Leben.“
Dabei galten die Proteste in besonderem Masse  seiner eigenen Abschiebung. Nguyen hat sich in Deutschland an Hepatitis C  infiziert. Die Krankheit ist noch nicht ausgebrochen. Sie kann in zwei  Wochen ausbrechen oder erst in 20 Jahren. Das weiß niemand genau. Dann  braucht er Medikamente, die es in Vietnam nicht gibt und die er nicht  bezahlen könnte, wenn sie aus dem Ausland kommen. Wer in Vietnam krank  ist, muss selbst zahlen.
Wie fast alle vietnamesischen Asylbewerber hatte  er sein Heimatland nicht wegen politischer Verfolgung 
verlassen,  sondern weil er der Armut und Perspektivlosigkeit in seinem  mittelvietnamesischen Dorf entkommen wollte. Die Region, in der Nguyen  lebt, ist in besonderer Weise vom Klimawandel betroffen. Reis gedeiht  nicht mehr, weil der Boden versandet und versalzt. Viele Familien  schicken einen Ernährer ins Ausland. Nach Taiwan, Malaysia und Südkorea  entsendet der vietnamesische Staat Vertragsarbeiter. Nach Europa geht es  zumeist illegal mit Schlepperbanden. Wer es schafft, und das klappt in  Europa meist nur auf kriminellem Weg wie etwa durch den Verkauf  unversteuerter Zigaretten, gilt als erfolgreich.
Auch Can, ein Mitdreißiger, der mit Nguyen in  der Abschiebemaschine saß, hatte unversteuerte Zigaretten verkauft.  Deutsch hatte er nie gelernt. Anders als Nguyen war er froh über die  Rückkehr nach Vietnam. In Deutschland war er nie angekommen. Nach zwei  Jahren Zigarettenverkauf hatte er die Schlepperschulden abgezahlt. „Dann  wollte ich nach Hause. Aber die vietnamesischen Behörden haben noch  länger als ein Jahr gebraucht, um mich wieder aufzunehmen“, ärgert er  sich. Can sagt offen, dass es ein Fehler war, nach Deutschland zu  kommen. Jetzt ist er zufrieden. „In Vietnam ist es nicht so kalt. Und  ich sehe meine Frau wieder und meine Töchter.“
Kurz nach seiner Ankunft hat Can im Radio eine  Sendung der Regierung gehört, in der vor Betrug durch Schlepperbanden  gewarnt wurde. Wäre er nicht nach Deutschland gekommen, wenn er das eher  gehört hätte? „Ich glaube nicht. Die Rückkehrer aus Europa kommen doch  nicht mit leeren Händen. Sie waren mir Vorbild. Unter welchen  Bedingungen sie ihr Geld verdienten, hat mir niemand erzählt.“
Von dem Geld, das er nach Abzahlung der  Schlepperschulden der Familie geschickt hat, hat diese ein Motorrad  gekauft. „Ich werde nach Hue oder Hoi An ziehen.“ Die Städte liegen  südlich seines Heimatdorfes und profitieren vom Tourismus. „Ich will  Motorradtaxi fahren“, sagt er. Und vermutlich wird er auch kaum einem  Landsmann erzählen, dass er in Deutschland immer auf der Hut vor der  Polizei und der Zigarettenmafia war und im Winter beim  Zigarettenverkaufen bitter gefroren hat.
Nguyen hat keinen solchen Plan. 10 000 geliehene  Dollar hatten Nguyens Eltern für den Transfer nach Europa gezahlt. Dazu  kam Geld, das die Schlepperbanden von ihm erpressten, als sie ihn auf  dem Weg nach Deutschland in Polen in einem Erdbunker festhielten. Als  Nguyen endlich in Berlin war, klaute er. „Ich stand unter Druck. Die  Bande hätte sonst das Leben meiner Eltern bedroht.“
Man glaubt dem höflichen Mann, dass ihm das  Klauen nicht liegt. Aber die Diebstähle blieben nicht unbemerkt. Nguyen  musste ins Gefängnis – für zwei Jahre. Dort soll er sich Hepatitis C  geholt haben. Laut dem Berliner Seelsorger Ludger Hillebrand legt die  Krankenakte des Mannes diese Version nahe: Bei der  Einlieferungsuntersuchung war er noch gesund, ein Jahr später wurde  Hepatitis C diagnostiziert.
55 Euro hat er – wie jeder vietnamesische  Abzuschiebende in Berlin – von der Bundespolizei ausgezahlt bekommen.  Das Geld ist für die Weiterreise von Hanoi in den Heimatort gedacht.  Nguyen hat keine Heimat mehr. Das Haus der Familie, in einem Dorf mehr  als 100 Kilometer südlich von Hanoi, musste einer Straße weichen. Er ist  bei einem Cousin in Hanoi untergekommen. Kostenlos. Vier Euro hat eine  vietnamesische Prepaidcard gekostet. Die steckt jetzt in seinem  deutschen Handy. Vier Euro kostete die Fahrt mit dem Motorradtaxi ins  Goethe-Institut. Vom Flughafen hat ihn der Cousin abgeholt. Die Fahrt zu  seinen Eltern mit Reisebus und Motorradtaxi, die er eine Woche später  antrat, verschlang fast 40 Euro.
„Ich habe noch keine Idee, was ich arbeite“,  sagt er. „Aber ich muss arbeiten, um Geld zu verdienen.“ Bauhelfer wäre  eine Variante. Darin hat er Erfahrung. Überall in Vietnam sieht man eine  Baustelle an der anderen. Überall, außer in Zentralvietnam, wo seine  Eltern wohnen. „Aber ich kenne doch niemanden, der mir einen Job geben  könnte.“ Er kennt auch niemanden, den er bitten könnte. Denn wer aus  Europa zurückkehrt und als Bauhelfer anheuert, ein Job, mit dem man  einen Euro pro Tag verdient, gilt als Versager.
Zwei Wochen später. Nguyen ist bei den Eltern.  Er musste in den Dörfern der Umgebung allen Verwandten einen Besuch  abstatten. Natürlich habe ich nicht gesagt, dass ich mit leeren Händen  gekommen bin und jetzt für immer in Vietnam lebe“, sagt er. Was hätten  die Verwandten von ihm gedacht? „Ich wäre ja der einzige gewesen, der  aus einem reichen Land ohne was zurückkommt.“ 
Die 55 Euro aus Deutschland sind verbraucht.  „Mein Cousin muss mir in Hanoi einen Job suchen. Dort kenne ich nur ihn  und ich verliere nicht mein Gesicht vor den anderen Verwandten.“ 
Von  Marina Mai
http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11979325/62249/Was-Vietnamesen-nach-ihrer-unfreiwilligen-Rueckkehr-aus-Deutschland.html
http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11979325/62249/Was-Vietnamesen-nach-ihrer-unfreiwilligen-Rueckkehr-aus-Deutschland.html
 
